Pinkas-Synagoge: Teure Preise für alte Gräber?
Nach langem Anstehen winkt die erschöpfte, vom Alter gezeichnete Hand der Ticketverkäuferin die Besucher der Pinkas-Synagoge durch das metallene Drehkreuz. Auf der anderen Seite des Drehkreuzes beginnt erneut eine Schlange aus Leuten, die für eine überteuerte Kippa anstehen. Im Hintergrund vernimmt man leises, respektvolles Gemurmel in verschiedenen Sprachen. Beim Betreten der im gotischen Stil gebauten Synagoge verstummt das Gemurmel und wird durch jüdische Gebete ersetzt, welche leise durch diskrete Lautsprecher in den Raum gespielt werden.
Dieses Gotteshaus wurde 1530 gebaut und Jahrhunderte lang von Juden besucht. Heute dient es als Gedenkstätte für 80’000 tschechische Juden, die im Zweiten Weltkrieg Opfer der Nazis geworden sind und die nie ein eigentliches Grab bekommen haben.
Das Sonnenlicht, das durch die violetten Synagogenfenster scheint, erhellt die Räume. Vergoldete Elemente schmücken die Hallen; ein erhöhtes Podium aus rotem Marmor steht inmitten des größten Saals. Die Wände der vier Räume sind über und über mit Namen und den dazugehörigen Lebensdaten bedeckt.
Wehklage I, 12: „Lasst es nicht an euch herankommen, ihr alle, die ihr vorbeigekommen seid! Seht, ob es einen Schmerz gibt, der meinem Schmerz gleicht.“ – Diese Worte stehen am Synagogeneingang, doch ungerührt bleiben die Besucher nicht. „Je länger man auf die Namen schaut“, sagt Irina (67) mit Tränen in den Augen, „desto mehr begreift man das Ausmaß des Judenmordes in der Schoah.“
Noch deutlicher wird die Tragödie, wenn man über eine steinerne Treppe ins zweite Stockwerk der Synagoge geht, den hölzernen Türrahmen durchschreitet und dort von Kinder- und Erwachsenen-Zeichnungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs empfangen wird, die einen mit Trauer erfüllen: Die dargestellte Welt reicht von Schreibübungen über Exekutionen bis zu Landschaften und Fabelwesen wie zum Beispiel Drachen. Zum Teil wurden auch bloß Menschen oder die Natur auf Papier festgehalten.
Aus einem Fenster hat man einen guten Blick auf den historischen Friedhof. In diesem Fleck Grün im Prager Stadtteil Josefov stehen tausende von alten Gräbern ungeordnet hinter- und nebeneinander. Die Ältesten davon stammen bereits aus dem frühen 15. Jahrhundert. Dieser Begräbnisplatz war für über dreihundert Jahre in Betrieb, bis Kaiser Joseph II. im Jahr 1787 weitere Begräbnisse in diesem Friedhof verbot. Wegen seiner langen Geschichte zählt der Friedhof zu den historisch bedeutendsten in Europa.
Die mächtigen Bäume spenden an diesem sonnigen Nachmittag allen Besuchern ihren weiten Schatten. Dazwischen sind überall Grabsteine, manche stehend, andere aneinander gelehnt und wieder andere am Boden liegend. Allesamt bedeckt mit Moos und Gras, die hebräischen Inschriften nicht immer lesbar. Ein Pfad aus Pflastersteinen schlängelt sich durch den hügeligen Friedhof. Es herrscht respektvolles Schweigen, nur durchbrochen von geflüsterten Erstaunensbekundungen und dem Zwitschern der Vögel. Auf den ersten Blick scheint dieser bedeutsame Ort nicht so groß, doch je weiter man dem schmalen Weg folgt, desto mehr Gräber tauchen auf, bis man das Gefühl hat, er nehme kein Ende mehr. Manche Grabsteine sind reich verziert, während andere lediglich schlichte Steine mit Inschriften sind. Wenn man darauf achtet, bemerkt man, dass auf vielen kleine Türme aus Kieselsteinen geschichtet sind. Dies ist eine Geste der Besucher. Sie dient der Ehrung und der Anteilnahme. Auch braucht man diese Steinhaufen, um ein Grab wiederzufinden oder es zu «kennzeichnen». Zudem schützen die Steine in großen Mengen auch vor der Witterung. Und doch sind es nicht einmal annähernd so viele wie es sein müssten, wenn man alle würde begraben wollen. Ein Besucher meint: «Es ist krass, dass der Friedhof mitten in der Stadt ist.» Er sei so riesig. Auch heute hat die Ruhestätte noch ihre ursprüngliche mittelalterliche Größe.
Am anderen Ende des Friedhofs wird man, nachdem die blaue Besucher-Kippa in den Sammelkorb gelegt wurde, von einem kleinen Museumsturm und einer weiteren Synagoge erwartet. Hier treten die Besucher die knarzenden Stufen der rustikalen Treppe hinauf. Im Eingang sitzt eine müde, blonde Frau. „Leider ist hier nicht so viel zu tun“, teilt Katerina (54) uns mit. „Ich sitze den ganzen Tag hier und das Einzige, was ich mache, ist, die Tickets der Besucher zu kontrollieren.“ Ihrer Wegbeschreibung folgend erwartet eine spannende Ausstellung über die Bestattung der Juden die interessierten Besucher. Es ist eine Bilderfolge, gepaart mit einigen Ausstellungsobjekten, die den Weg von Krankheit, über Begräbnis bis zu der trauernden Familie darlegt. Diese Räume werden von blau-weißen Fenstern, welche ein geometrisches Muster mit dem Davidstern aufzeigt, erhellt.
Gegenüber steht die Klausen-Synagoge. Auch sie ist eingerichtet wie ein Museum. Überall stehen gläserne Vitrinen mit antiken Gegenständen aus jüdischem Besitz. Diese kann man beim künstlichen Licht der reich verzierten Kronleuchter gut erkennen und bestaunen. Leider sind die Fenster abgedunkelt und die farbenfrohen Fenstergläser verdeckt. Die Stimmen der verschiedenen Guides hallen durch den hohen Raum, während die zahlreichen Touristen aufmerksam zuhören. Im zweiten Stock findet man zwei typisch jüdisch eingerichtete Zimmer und weitere Ausstellungsgegenstände. Den „Exit-Schildern“ folgend findet man den beim Ausgang gelegenen Souvenirshop. Geblendet vom hellen Sonnenlicht tritt man in melancholischer Stimmung aus der Synagoge. Von vielen Eindrücken begleitet, verlässt man nun das jüdische Viertel.
Text von Lina Gysling, Elena Liberi, Lisa Dickmann