Über von Abgasen geschwärzten Schnee eilt eine Gruppe von Jugendlichen von der Metrostation scheinbar auf den Campus der McGill University zu. Dann jedoch, ohne das Universitätsportal eines Blickes zu würdigen, folgen die dick vermummten Gestalten weiter der belebten Strasse. Nach wenigen Minuten erklimmen sie die vereisten Stufen, die auf einen kleinen Schulplatz führen. Schnell ist dieser überquert, denn der kanadische Winter lässt die Schüler aufatmen bei der Aussicht auf die gut geheizte Eingangshalle der École F.A.C.E.
Ein halbes Jahr durfte ich im Rahmen eines Schüleraustauschs an dieser artistisch orientieren Schule im Herzen der Grossstadt Montréal verbringen und möchte diese hiermit vorstellen.
Zwischen den unzähligen, zusammengewürfelten Fakultätsgebäuden der Universität fällt das doch ziemlich majestätische Schulhaus im neoklassischen Stil gar nicht auf. Die aufwändig gearbeitete Fassade mit Säulen und kupfernen Verzierungen macht jedoch beim zweiten Hinsehen auf sich aufmerksam.
Als der Bau 1843 errichtet wurde, beherbergte er die High School of Montréal und die Royal Grammer School. 1965 mussten die beiden Schulen der High School for Girls weichen, bis die 1975 gegründete Fine Arts Core Elementary, kurz F.A.C.E., vor zwanzig Jahren in das zentral gelegene Schulhaus einzog.
Die Schule hat sich seither verändert: Sie bietet ihr speziell künstlerisches Programm nun auch für Oberstufe an; dies in Französisch und Englisch, den beiden offiziellen Sprachen Montréals. Kindergarten, Primarschule und Oberstufe der englischen und der französischen Abteilungen sind nun in dieser Schule vereint und sie zählt aktuell etwa 1400 Schülerinnen und Schüler.
Die Schule folgt dem Lehrplan der Commission scolaire de Montréal. In fünf Jahren École secondaire werden Französisch, Englisch mit Niveauabstufung, Mathematik, Naturwissenschaften und Technologie (Science et Technologie), Geschichte, Geographie, Ethik und Kultur und Sport unterrichtet.
Das „Programme Beaux-Arts“ beinhaltet die Fächer Gesang, Instrumentalunterricht mit Instrument nach Wahl, Theaterunterricht (Schauspielerei, Kostüm- und Theatergeschichte, Interpretation, Diktion und Bühnenpräsenz), Bildnerisches Gestalten und im letzten Jahr Kunst- und Filmgeschichte. Weiter gibt es Freifächer in Sport und Musik – ein Fussball- und ein Footballteam, eine Cheerleadergruppe, Blues- und Jazzband, drei Orchester und zwei Bläsergruppen – sowie Freifächer in Rhetorik, moderner Geschichte und Naturwissenschaften.
Obwohl ich gerne die Abschlussklasse besucht hätte, teilte mich die Direktion in das vierte und zweitletzte Schuljahr ein. Der erste Schultag war kurz: Die Klasseneinteilungen wurden bekanntgegeben. Von unserem „Professeur de famille“, dem Klassenlehrer, erhielten wir einige Formulare und unsere Agenda für das ganze Jahr. Diese dient als Planer, Absenzen- und Mitteilungsheft und enthält ausserdem eine Liste aller obligatorischen Anlässe und wichtigen Ereignisse.
Nach einer Stunde war die Angelegenheit vorüber – und ich völlig entmutigt! Die andern Jugendlichen hatten mich zwar freundlichst begrüsst, doch vom schnellen Französisch mit dem furchtbaren kanadischen Akzent hatte ich leider herzlich wenig – eigentlich so gut wie gar nichts - verstanden.
Der zweite Morgen begann mit einer ewigen Busfahrt von zu Hause, auf der ich auch später oft sehr nahe an einem klaustrophobischen Anfall war, denn es schien die ganze Vorstadt zur selben Zeit wie ich zur Metrostation zu reisen. Nach über einer halben Stunde ergoss sich der Menschenschwall aus dem kleinen Bus und man verteilte sich auf dem Perron, um auf die Metro zu warten.
Nach weiteren knapp 20 Minuten erreichte ich die summende Metrostation McGill, 5 Minuten von meiner Schule entfernt. Am Eingang begrüsste ein Musiklehrer jeden mit Namen und hinter ihm schaute eine Surveillante bei den herumwuselnden Kindergärtnern und Primarschülern zum Rechten. Von da folgte ich einigen Mädchen meiner Klasse durch die leicht abgeblätterten Korridore zum Kunstklassenzimmer im Untergeschoss.
An diesem Abend war ich schon viel glücklicher: Ich hatte einige sprachliche Gewohnheiten der Québécois festgestellt und verstand schon mehr. Der von allen geliebte Sozialarbeiter Jacques hatte mich nun auch herzlichst willkommen geheissen und mir seine Hilfe angeboten, was mein etwas zerstreuter Klassenlehrer nicht vermocht hatte.
Bald ging es zügig voran: Ich lernte, ohne es zu merken und freundete mich mit den zahlreichen Künstlerseelen meiner Mitschüler an. Mit ihrer unvoreingenommen und neugierigen Haltung machten sie es mir sehr einfach, mich einzufügen. Die Verständigung wandelte sich von viel Englisch, zu mit Händen und Füssen gestikulierend mit einigen französischen Worten...
Nach einem Monat konnte ich dem Unterricht folgen und verständliche Sätze bilden. Das Lesen in den Schulstunden und meine Freunde halfen mir sehr. Meine Französischlehrerin, die mir sehr stolz einige Brocken Deutsch präsentierte, gab mir zusätzliche Grammatikübungen. In Geschichte konnte ich im schlimmsten Fall englische Sätze schreiben und bekam dann eine vollständig auf französisch übersetzte Fassung meiner Prüfung zurück.
Während hier mit der Aufnahmeprüfung eine Selektion gemacht wird, bleiben in Montréal alle Schüler zusammen, um das Secondaire zu beenden. So sind Lerngeschwindigkeiten unterschiedlich, einige über- oder unterfordert (was den Lärmpegel erheblich steigert) und das Niveau des Stoffs tendenziell tiefer. Die akademisch beste Schule der Stadt ist eine Privatschule, die ein internationales Programm anbietet.
Die Werte der École F.A.C.E. jedoch liegen mehr auf künstlerischem Gebiet, was sich in den Lehrern sowie den Schülern widerspiegelt. Mehrere Lehrer spielen in Theatergruppen oder Bands, einer baut in seiner Freizeit Gitarren, ein anderer ist ein Stadtbekannter Bildhauer. Nicht selten hörte man im bemalten Treppenhaus einen meiner Mitschüler auf seiner Ukulele spielen und dazu singen, jeden Tag wurden Musik, Film, plastische Kunst und Theater diskutiert und jeder nahm am Abend sein Instrument nach Hause, um etwas zu üben. Oft sassen wir auch nach der Schule für eine Jam-Session zusammen.
Auch wenn ich die Stimmung und das offene, alternative Lehrverständnis als Erfahrung sehr interessant fand, bin ich auch froh, ans Rämibühl zurückzukehren. Ich würde die Erfahrung aber jedem, der sich ein Abenteuer zutraut, wärmstens empfehlen. In einer Gastfamilie zu wohnen, eine öffentliche Schule zu besuchen und der Umgang mit Gleichaltrigen mit einem völlig anderen Hintergrund bieten einen tiefen Einblick in eine fremde Kultur. Man lernt auch sich selber und seine Grenzen gut kennen, ist man doch in einem anderen Land auf sich alleine gestellt. Einzigartig, unvorhersehbar und wunderbar, etwas das einem ganz alleine gehört: eins der besten halben Jahre meines Lebens!
Linn Henz, 4e