Ähnlich wie die Theaterstücke von Shakespeare, oder die Detektivgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, sind die Kurzgeschichten von James Joyce ein Muss, wenn es um englische Literatur geht. Wer schon einmal etwas von diesem legendären Künstler gelesen hat, weiss, dass seine Texte alles andere als anspruchslos sind. Mittels der Bewusstseinstechnik (stream of consciousness), gelingt es ihm, so manchen Leser aus der Bahn zu werfen und ihn dazu zu zwingen, die Sätze zwei- oder gar dreimal zu lesen, um sie zu verstehen. Doch die Analyse loht sich, und wer wäre für diese Arbeit besser geeignet als Fritz Senn? Dieser über achtzig-jährige Mann hat sich voll und ganz James Joyces Werken verschrieben, kennt jeden Text nahezu auswendig und weiss über jedes Detail im Leben des Schriftstellers Bescheid. Diese Leidenschaft erklärt auch sein unglaubliches Wissen.
Uns wurde die Ehre zuteil, zwei Stunden lang in der James Joyce Stiftung, in einer verschlafenen Gasse hinter dem St. Peter, eine Kurzgeschichte aus der Reihe der Dubliners mit Herrn Senn zu besprechen. Fritz Senn ist der Gründer und Leiter der James Joyce Stiftung, die es seit 1985 in Zürich gibt. An diesem Ort wird alles, was er auch nur im entferntesten mit James Joyce in Verbindung bringt, sorgfältig abgelegt und aufbewahrt. Herr Senn leitet Lesegruppen, in welchen Ulysses, das wichtigste Buch James Joyces, über eine unglaubliche Zeitspanne von drei Jahren gelesen wird.
Da wir uns im Englischunterricht gerade mit Kurzgeschichten von James Joyce befasst hatten, organisierte Frau Vseticka Egli für uns diesen Besuch. Schmale, hölzerne Stufen, die unter dem Gewicht unserer Schritte knarrten, führten uns in Fritz Senns Reich: eine ehemalige Wohnung voller Bücher – nahezu alle von oder über James Joyce. Wir quetschten uns in ein Zimmer, in welchem sich kreisförmig angeordnete Tische befanden, und nahmen Platz. Fritz Senn übertraf in mancher Hinsicht unsere Erwartungen, denn durch seine Lebhaftigkeit und Wachheit machte er sein Alter allemal wett. Vertieft in Details im Leben von James Joyce, schien der grauhaarige Mann richtig aufzublühen und vor Energie zu strotzen.
Der Schauplatz der Dubliners ist, wie der Name schon sagt, Joyces Geburtsstadt, von der er schon früh weg ging, die ihn aber stets in Bann hielt und für sein Werk inspirierte. So lebte der Künstler in Triest, Rom und Paris, aber auch in Zürich. Hier hatte er viele Lieblingsplätze und liegt sogar im Friedhof Fluntern begraben.
Wer von unserer Klasse bisher den Eindruck gehabt haben mag, im Literaturunterricht gute Beiträge zu leisten, überlegte sich diesen Schluss gewiss noch mal genau nach der Besprechung der Kurzgeschichte mit Fritz Senn. Der Joyce-Experte wählte seine Worte mit Bedacht und erläuterte der Klasse so manches verborgenes Symbol. So waren wir erstaunt, was Fritz Senn alles aus der Geschichte rausholte und welche Nebensächlichkeiten plötzlich wichtig wurden. Trotz seines Redeflusses war es Herrn Senn ein Anliegen, auch unsere Ideen anzuhören, und er nahm unsere Beiträge ernst. Ohne Zweifel konnten wir alle von diesem Nachmittag in der Stiftung profitieren. An jenem Ort wurden Bücher regelrecht lebendig, und sei es nur, weil sie in Fritz Senns Händen tanzten.
Text: Klasse 5b
Fotos: Katerina Vseticka Egli